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Schicksal oder selbst schuld?

Warum

Die Frage nach dem „Warum ich?“ bei einer Krebserkrankung ist so nachvollziehbar wie selbstzerstörerisch. Und obwohl die Suche nach einer Antwort quälend ist, braucht es ab Tag 1 der Diagnose doch eine innere Haltung dazu. Denn egal, mit wem ich spreche, immer wieder werde ich damit konfrontiert.  

In meinem Umfeld begegnen mir verschiedene Denkweisen. Der eine nennt es schlichtweg „Pech“ und der Psychoonkologe verweist auf ein „biologisches Schicksal ohne psychosomatischen Einfluss“. Und obwohl beide es unterschiedlich ausdrücken, meinen sie doch das Gleiche: Quäl dich nicht, du kannst nichts für deinen Krebs. Dann gibt es Mitmenschen, die es gut meinen, und mir ungefragt Tipps zu meinem Umgang mit Stress und zu meiner Ernährung geben. Und auch wenn sie es positiv ausdrücken und meine sowieso-schon-Zucker-reduzierte-Ernährung würdigen, bleibt ein schaler Beigeschmack. Diese Menschen scheinen davon auszugehen, dass weniger Stress und weniger Zucker meine Heilung unterstützen würden. Aber bedeutet das nicht auch im Umkehrschluss, dass mein Lebenswandel mindestens eine Mitschuld an meiner Erkrankung trägt? Wäre ich etwa nie erkrankt, hätte ich noch weniger Zucker gegessen, wäre noch mehr Rad gefahren und hätte öfter mal alle 5 gerade sein lassen? Und wie würden sich diese Menschen fühlen, wenn ich ihnen aufgrund Elemente ihres Lebenswandels eine schlimme Krankheit prognostiziere?

Genauso haben mich Menschen in meinem Umfeld schon darauf hingewiesen, dass Krankheiten immer Ursachen haben. Diese Menschen halten nichts von der Pech-Theorie. Sie glauben daran, dass irgendetwas in meinem Inneren aus dem Gleichgewicht geraten ist, und sich deswegen die bösen Krebszellen durchsetzen konnten. Sie sagen Dinge wie „Es war ja auch wirklich viel in deinem Leben in den letzten Jahren. Jetzt kommst du mal zur Ruhe.“ (Sorry, wenn es darum geht, ein Sabbatical hätte mir auch gereicht!).

Die Menschen, die der Pech-Theorie folgen, versuchen mir die Last von meinen Schultern zu nehmen. Dafür bin ich sehr dankbar. Und je mehr jemand nachweislich Ahnung auf diesem Gebiet hat, desto eher bin ich geneigt, zu glauben. Desto eher hoffe ich, dass mein kleines, nie müde werdendes Köpfchen endlich aufhört zu grübeln, und es einfach hin nimmt. Und doch regt sich gleichzeitig eine Stimme in mir, die sagt „Das ist zu einfach.“ So gerne würde ich aus voller Überzeugung glauben, wirklich. Aber ich kann es nicht. Und die Menschen, die meine Krankheit ganzheitlich sehen, wollen mich unterstützen. Glauben sicherlich, dass sie mir etwas Neues berichten, was mir helfen wird, meinen Weg zu finden. Ich kann immer die gute Absicht erkennen, wirklich. Und doch reduzierte es sich in meinem Kopf anfangs auf nur eine Frage.

Bin ich also am Ende selbst schuld daran, dass ich so schwer erkrankt bin?

Seit 7 Jahren praktiziere ich Yoga. Was mit körperlichen Übungen auf der Matte begann, um Stress zu reduzieren, wurde mit den Jahren immer mehr für mich. Ein Leben ohne Yoga kann ich mir nicht mehr vorstellen. Im Yoga glauben wir an die Verbundenheit von Körper, Geist und Seele. Und wie oft habe ich in den letzten Jahren genau dies erfahren. Die beginnende Erkältung, die über Nacht verschwindet, wenn ich alle Termine abgesagt und meinem Körper Ruhe geschenkt habe. Das Stehen in einbeinigen Asanas, welches mir sehr sicher anzeigt, ob mein Leben gerade in Balance ist oder eher nicht. Leichtigkeit im Kopf und plötzliche Problemlösungen, die am Ende einer körperlich aktivierenden Praxis auf mich warten. Mein linker Arm, der immer zielsicher anschlägt, wenn sich der Druck- und Stresspegel im Job erhöht.

Ja, ich glaube daran, dass mir Knötchen etwas sagen will. Dass mein Immunsystem nicht in der Lage war, den Krebs abzuwehren, ist Fakt. Und ich will wissen, warum nicht. Was hat in meinem Leben dazu beigetragen, dass ich die bösartigen Krebszellen nicht direkt bei Entstehung über den Jordan schicken konnte? War es die seelische Belastung meiner letzten Trennung? Der Stress aus Teilzeit- und Nebenjob? So „simple“ Faktoren wie zu viel Zucker und Kohlenhydrate? Nicht aufgearbeitete Belastungen aus meiner Kindheit und Jugend? Ein Mix aus allem oder noch viel mehr?

Und gleichzeitig wehre ich mich dagegen, selbst schuld zu sein. Das Zusammenspiel zwischen Körper, Geist und Seele ist so komplex wie einfach. Irgendwo in mir schlummert eine Lösung, die ich finden möchte. Eine Antwort, die sich wissenschaftlich nicht nachweisen lassen wird. Etwas, woran ich glauben kann, wenn ich gesund werde.

Der Glaube versetzt Berge. Und bestimmt trägt er auch zur Heilung einer Krebserkrankung bei.

Für mich gibt es nämlich zwei Arten der Ursachenforschung. Die eine macht dich selbst kaputt. Du haderst mit dir, verbietest dir alles, lebst in ständigem Zorn, dass du wieder zu viel gegessen/getrunken/das Falsche gedacht hast. Du fühlst dich schlecht, obwohl du doch gesund werden möchtest. Deine Anstrengungen um einen gesunden Lebenswandel reiben dich auf. Jeder gut gemeinte Rat deiner Mitmenschen ist ein Schlag ins Gesicht. Du sehnst dich danach, endlich wieder so sorglos leben zu können, wie vor der Diagnose. Aber mit Krebs kannst du das nicht mehr.

Alle anderen können zu McDonals gehen und den ganzen Tag Süßigkeiten futtern und haben maximal einen kleinen Bauch. Ich kriege gleich Krebs davon.

Und dann gibt es die andere Möglichkeit: Lernen, diese schlimme Krankheit als einen Teil von dir anzunehmen. Egal, was du tust, es wird nie wieder ein Zurück geben. Dein Leben wird niemals wieder so sein wie vorher. Diese Krankheit gehört nun zu dir, und damit auch ein implizites Wissen darüber, was ihre Entstehung begünstigt hat. Eintauchen in Faktoren und Umstände, die „man“ halt so macht und die lange Zeit Teil deines Lebens waren. Die sich aber, weil es bei dir nun mal so ist, negativ auf deine Gesundheit ausgewirkt haben. Vergleichen mit anderen tut weh und doch ist es menschlich. Jedoch bringt Hadern an dieser Stelle nichts. Es produziert nur negative Energie, die sich vermutlich ebenso wenig positiv auf deinen Gesundheitszustand auswirkt.

An guten Tagen bin ich also Sandra, die leidenschaftlich Suchende. Ich arbeite mich Stück für Stück vor und sortiere die Puzzlestücke meines Lebens unter der Überschrift Brustkrebs neu zurecht. Frage mich, was zu meiner Erkrankung beigetragen haben könnte. Habe ein gutes Urvertrauen in das, was mir gut tut. Und ich kann selbstbewusst ein Stück Kuchen (ja, mit Zucker!) essen, weil ich spüre, dass Ernährung nicht meine größte Baustelle ist. Wenn mir jemand schlaue Tipps für den Umgang mit meiner Krankheit gibt, kann ich drüber stehen. Ich weiß, dass dieser Mensch es gut meint, mich noch lange in seinem Leben haben möchte und vermutlich auch nicht weiß, was sonst zu sagen wäre. Ich kann milde damit umgehen, dass dieser Mensch KEINEN VERDAMMTEN BLASSEN SCHIMMER hat, was es heißt, an Krebs erkrankt zu sein.

An weniger guten Tagen bin ich jedoch Sandra, die ihr Vertrauen in das Schicksal und in die Gerechtigkeit verloren hat. Ich lese Artikel zum Thema Ernährung, und obwohl ich weiß, dass ich mich im Vergleich zu meinem kompletten Umfeld BOMBE ernähre, suche ich nach dem einen Strohhalm, den ich vielleicht noch nicht optimal umsetze. Mir ist bewusst, dass Gelassenheit anders geht. Und dass es im Zweifel nicht um 10g Zucker oder zu wenig Gemüse, sondern um den Abbau der inneren Anspannung geht. Und doch kann ich manchmal (noch) nicht aus meiner Haut. Dafür ist es noch zu viel, zu neu und zu beängstigend. Dafür ist meine innere Haltung noch nicht gefestigt genug.

Du findest es schwierig mit mir? Ja, das ist es. Und du kennst noch nicht mal mein Inneres.

24 Tage nach meiner Diagnose habe ich also noch keine abschließende Antwort auf die Frage „Warum ich?“ gefunden. Aber zumindest habe ich eine Antwort gefunden, wie es für mich weitergehen darf. Meine Ursachenforschung hilft mir in der Aufarbeitung und in der Heilung. Sie unterliegt jedoch meinem eigenen Tempo und meiner Verantwortung. Jemand ohne die Diagnose „Krebs“ darf (bis auf wenige Ausnahmen) nicht mitreden. Denn … SORRY, DU HAST ABSOLUT KEINE AHNUNG … auch wenn du es gut meinst, ich weiß. Bitte gib mir keine Tipps, außer ich frage dich um Rat. Sei einfach da für mich und lenke mich im Zweifel lieber ab. Dankeschön.

Jedoch will ich mich nicht in Vergangenem einwühlen. Sondern den Blick weiterhin fest in die Zukunft richten. Gesund sein heißt für mich, dauerhaft vom Krebs geheilt zu sein. Dauerhaft heißt, ohne Rückfall. Was brauchen also mein Körper, mein Geist und meine Seele, um wieder gesund zu werden? Hier gehe ich weiterhin meinen individuellen Weg, Schritt für Schritt. Nehme die ersten Veränderungen vor. Prüfe und gehe in mich, was mir gut tut. Und halte mich nicht mehr an der selbstzerstörerischen Frage auf, ob ich einfach Pech hatte oder selbst schuld bin. Denn diese Frage bringt nichts auf dem Weg zu meiner Heilung.

Photo by Jamie Street.

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