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Abschied und Neubeginn

Sommersonnenwende_2

Gestern, am 21. Juni 2017, war der längste Tag des Jahres.  Schon einige Tage vorher habe ich gespürt, dass ich an diesem Abend ganz für mich sein möchte. Denn es ist viel los bei mir im Moment. Seit einiger Zeit gehe ich wieder arbeiten und die Strahlentherapie hat begonnen. Parallel verspüre ich das tiefe Bedürfnis, noch intensiver für mich und mein Wohlbefinden zu sorgen, als ich das bisher schon getan habe. Das ist manchmal ganz schön herausfordernd.

Denn ich könnte so viel machen auf dem Weg zu meiner Heilung. Termine, Bücher, Gespräche, Behandlungen rund um mein Knötchen könnten meinen Alltag aus Job 1, Job 2, Haushalt und dem üblichen Wahnsinn ergänzen. Aber einiges wird mir gerade zu viel. Mein Umfeld merkt das daran, dass ich Verabredungen absage oder gar nicht erst eingehe. Lange versprochene Telefonate nicht erfolgen. Nachrichten spät beantwortet werden.

Meine Wohnung wird nur noch sporadisch gesäubert. Der Garten welkt vor sich. Stört ja keinen außer mir. (Und mich stört es gewaltig, aber das ist ein anderes Thema.) Ich vertröste alles und jeden auf später. Irgendwann, wenn alles vorbei ist. Vielleicht auch nie.

Denn im Moment, das spüre ich ganz deutlich, ist Ruhe angesagt. Ich brauche gerade die Sicht nach Innen.

Die Seele reist hinterher, heißt es

Und so ist es auch mit den Geschehnissen der letzten Monate. Meine Seele will nachkommen und das, was geschehen ist, langsam verarbeiten. Verstehen, begreifen, akzeptieren und loslassen. Viel ist hier schon passiert, denn ich weiß, dass ich immer wieder solche Pausen brauche. Und ich nehme sie mir, immer wieder und sehr bewusst. Und doch kann es sie auch nicht genug geben.

Manch einer könnte mit meinen Erlebnissen und Erfahrungen der letzten Monate einige Lebensjahre füllen. Und so stand für mich schon seit einigen Tagen fest, dass ich mich mal wieder mit mir selbst verabreden darf. Zum nacherleben und nachspüren. Damit ich mich nicht selbst abhänge. Ohne Einfluss von Außen. Nur ich, meine Gedanken und meine Gefühle. Stift und Papier. Ein leckeres Getränk. Die Taschentücherbox. Und ganz viel Verständnis, Fürsorge und Selbstliebe.

Dieses Nachspüren hilft mir sehr, wirklich ich zu sein. Tue ich das nicht, so rutsche ich ins Funktionieren ab. In der Psychologie nennt man das Dissoziation. Hierunter versteht man (ganz vereinfacht ausgedrückt) das Auseinanderdriften von Bewusstsein und Handeln. Das bedeutet, wenn wir uns unserer Selbst nicht voll bewusst sind, sind wir in einem dissoziierten Zustand. Und diese Zustände (die wir alle mal haben) dürfen für mich persönlich nicht überhand nehmen. Dann bin ich nicht mehr authentisch. Das spüre ich sofort. Und dann mache auch mal ganz komische Dinge 🙂

Und so passte es am Tag der Sommersonnenwende so wunderbar gut, dass ich über Facebook zu einer ganz besonderen „Mittsommer-Feier“ eingeladen war. Spontan entdeckt, beschloss ich direkt teilzunehmen. Denn das Ritual, was vorgeschlagen wurde, gefiel mir auf Anhieb sehr. Es gab drei Fragen, die ich mir stellen durfte. Alle Antworten sollte ich auf einen Zettel schreiben und diesen anschließend verbrennen. Verbunden mit meinen Wünschen an die Welt. Hatte es also doch einen Sinn, dass ich den Grill noch nicht sauber gemacht habe 😉

Was war toll im letzten halben Jahr?

Das fragte ich mich als erstes. Und da gab es einiges für mich. Nicht alles möchte ich hier mit dir teilen. Aber eines kann ich dir sagen: Ich fühle mich wirklich lebendig und voller Lebensfreude. So sehr wie noch nie zuvor. Und es macht mich wirklich glücklich, dass ich in der Lage bin, so zu denken und zu fühlen.

Denn das war nicht immer so. Wer mich lange kennt, weiß, dass ich in meinen Zwanzigern viel gearbeitet und mich auch gerne mal beschwert habe. Ich war wohl ein eher unglücklicher Mensch. Obwohl ich es damals gar nicht so gesehen hätte. Denn ich dachte, das Leben sei halt so. Karriere, Studium und Partnerschaft um jeden Preis – das waren die Themen, die mich damals bewegt haben. Dass ich mich selbst darüber manches mal verloren habe, fiel mir erst im Rückblick auf.

Objektiv betrachtet war mein Leben oft schon viel einfacher als es das heute ist. Dennoch lebe ich heute viel bewusster, achtsamer und glücklicher. Auch mit Brustkrebs.

Was war herausfordernd im letzten halben Jahr?

Ach, Knötchen … Damit bist wohl du gemeint, dachte ich mir. Denn es ist herausfordernd mit und ohne ihn (denn mittlerweile ist er ja schon wegoperiert worden, der kleine Wicht – und zwar mehrfach). Wem würde es nicht so gehen? Wer wünscht sich schon eine Brustkrebs-Erkrankung in so jungen Jahren? Aber Knötchen ist nicht die einzige Herausforderung im letzten halben Jahr gewesen. Auch die Trennung von meinem langjährigen Partner und sein Auszug aus der gemeinsamen Wohnung erscheinen vor meinem inneren Auge. Und es gab noch mehr.

Ja, es war viel, was ich zu stemmen hatte. Und ja, ich wünsche mir in einigen Punkten einen Wandel.

 

Wo wünsche ich mir eine Veränderung für die Zukunft?

Interessant, wie sich die Prioritäten verschieben, wenn man erkrankt ist. So dachte ich bei der letzten Frage dieses kleinen Rituals.

Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen.“

(Indisches Sprichwort)

Du kannst dir denken, in welchem Punkt ich mir einen Wandel wünsche. Mir das in allen Facetten vorzustellen, fiel mir nicht schwer. Denn trotz OP’s und Behandlungen bin ich dank täglichem Sport, gesunder Ernährung und viel Me-Time fit und fühle mich gesund. Auch wenn ich es nicht bin. Ich wünsche mir also nichts mehr, als dass mein Gefühl von mir (ich fühle mich gesund) wieder mit meinem tatsächlichen Zustand (ich bin gesund) übereinstimmt.

Sommersonnenwende_1

Ich ließ mir sehr viel Zeit für diese Aufgabe. Schlabberte ein leckeres Weizen (alkoholfrei!) und genoss den wunderschönen Sommerabend in meinem Garten. Unkraut und verbrannten Rasen blendete ich dabei aus. Ich war ganz bei mir. Und ließ mich fallen. Die Gedanken kamen und gingen. Ich durchlebte noch einmal meine schlimmsten Momente in den vergangenen Monaten. Allen voran meine Diagnose und die Momente danach. Die Taschentücher kamen zum Einsatz. Und ich musste lachen – hatte ich nicht letzte Woche erst davon geschrieben, dass wir weinen dürfen. Dass wir Emotionen zeigen dürfen. Wann immer und wie immer sie ausfallen. Oh ja, das dürfen wir. Also ließ ich es laufen. Meine Seele war erleichtert, dass ihr zugehört wurde.

Und ich durchlebte noch einmal sehr intensiv meine schönsten Momente. Momente der Freude und der Liebe. Kraft und Stärke. Einsicht und innere Weisheit. Viel war dabei. Ich lächelte. Und ja, ich spürte eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich am Leben bin. Und freute mich darauf, meine Pläne, Wünsche und Vorstellungen umzusetzen. Weiterhin Freude und Glück zu spüren. Ich zu sein und noch mehr bei mir anzukommen. Und meine Seele war richtig happy. Sie durfte sich austoben und war der Star des Abends.

Als es dunkel war (und das dauerte, denn es war ja die kürzeste Nacht des Jahres) nahm ich dann meinen Zettel und verbrannte ihn.

 

Ich malte mir das Leben aus, das ich gerne führen möchte. In allen Farben. Mit ganz viel Fantasie und Vorstellungskraft. Wie viel Spaß mir das machte. Ich kostete diesen Moment richtig aus.

Und so war dieser Abend insgesamt ein ganz besonderer für mich. Er war Abschied und Neubeginn zugleich. Die letzten sechs Monate haben mir viel Schmerzhaftes gebracht. Aber sie haben mir auch gezeigt, was wirklich wichtig ist im Leben. Nicht die Karriere steht im Vordergrund, wie ich das vor einigen Jahren noch glaubte. Nicht um jeden Preis einen Partner an seiner Seite zu haben, macht dich aus.

Nein, am wichtigsten ist die Liebe.

Wenn du eine Blume magst, pflückst du sie. Wenn du eine Blume liebst, gibst du ihr täglich Wasser. (Buddha)

Vielleicht klingt das kitschig für dich. Aber es entspricht meiner tiefen Überzeugung, dass die Liebe mir täglich hilft, meinen Weg zu gehen. Die Liebe zu mir selbst. Die Liebe meiner Eltern und Familie. Die Liebe meiner engsten Freunde. Und die Liebe für meinen Körper, für den ich mir Gesundheit wünsche.

Und – die Liebe am Leben. Auch und gerade in den kleinen Momenten. Auch und gerade in Momenten, in denen sie uns nicht so einfach fällt. Weil es schwer ist, sich zu erlauben, nicht funktionieren zu müssen. Nicht mehr funktionieren zu können. Weil es schwer ist zu verstehen, dass es Dinge im Leben gibt, die wir hinnehmen dürfen. Um daraus zu wachsen und uns weiterzuentwickeln. Weil es einfach manchmal schwer ist anzunehmen, dass das, was gerade läuft, für und nicht gegen dich ist. Vertrauen zu haben. In dich selbst und in das Leben.

Ich bin die Allerletzte auf diesem Planeten, der das immer gelingt. Auch ich habe meine „Lieblinge“ – Themen, die ich noch nicht für mich lösen konnte. Entwicklungsfelder, die ich wieder und wieder durchschreite, da sie mir beim ersten Mal noch nicht genügten. Doch in diesem Moment, in dem ich meinen Zettel verbrenne, habe ich alles davon in mir. Es gehört zu mir, doch jetzt darf ich es loslassen. Jetzt darf ich einsehen, dass ich genug Schmerzen damit hatte. Jetzt darf ich mir wünschen, dass ein Wandel erfolgt. Und genau das tue ich aus tiefstem Herzen.

Heute, 24 Stunden später, bin ich immer noch nachdenklich. Aber ich merke, dass ich von diesem Abend, von diesem Ritual, zehre. Eine Verabredung mit mir selbst? Immer! Begreifen durch Schreiben? Sowieso! Sich etwas für die Zukunft wünschen und diesen Wunsch verbrennen? Neu für mich. Aber wunderschön und wiederholenswert.

Photos by Sandra Lotz.

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