Liebes Knötchen,
heute wirst du schon zwei Monate alt. Unglaublich, wie schnell die Zeit mit dir vergangen ist. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich am 10. April 2017 vor der Ärztin gesessen habe und kaum glauben konnte, was sie mir da erzählte. Ich war geschockt, fassungslos und habe wenig von dem mitbekommen, was sie mir zu deiner Behandlung berichtet hat. Nur dass du direkt raus operiert werden solltest, war schnell klar. Irgendwie bin ich noch mit dem Auto nach Hause gekommen und dann saß ich da. Alleine, ziemlich einsam, ohne einen konkreten Gedanken, was ich nun eigentlich tun soll. In Ermangelung von Alternativen – schließlich haben zu diesem Zeitpunkt alle entweder gearbeitet, wussten nichts von dir oder waren nicht erreichbar – gab es erstmal einen Sekt. Und dann noch einen und noch einen. Und so ist das ja auch bei Geburten und Geburtstagen, oder? Man trinkt erstmal gemeinsam einen und erhebt das Glas auf … ja, auf was denn eigentlich? Dass ich mich zu diesem Zeitpunkt über dich gefreut hätte, wäre glatt erlogen. So weit geht die Liebe nicht, mein liebes Knötchen, dass wir uns da richtig verstehen! Aber irgendwie haben wir uns schon aneinander gewöhnt, gell.
„Kein Wunder, ich bin ja auch schon viel länger als zwei Monate da“, wirst du jetzt entgegen. Und dass ich ich hier gerade die Tatsachen verdrehe, nur um einen guten Aufhänger für meinen heutigen Artikel zu haben. Ja, ich weiß. Du bist echt ein alter Besserwisser, Knötchen. Bereits im Dezember 2016 haben meine damaligen Frauenärztin und ich dich ertastet. Und Ende März 2017 habe ich dich dann innerlich auf den Namen „Knötchen“ getauft. Seitdem unterhalten wir beide uns miteinander. Ein bisschen ist es mit dir, wie in einer Schwangerschaft. Bei einem Baby feiert man den Geburtstag auch erst dann, wenn es wirklich geboren wurde. Und wenn wir zwei mal ehrlich sind, dann wurdest du erst so richtig geboren, als die Ärzte dich als bösartig eingestuft haben. Ist das für dich nachvollziehbar? Wie schön, ich merke, du kannst mir folgen. Halten wir also fest: Dein Geburtstag ist am 10.04.2017. Und dein Monatstag ist somit immer am 10. eines Monats.
Huch, was haben wir denn letzten Monat am 10. gemacht? Lass mich überlegen … Richtig, wir waren noch einmal in der Klinik. Bei der OP Ende April 2017 sind physische Reste von dir in meiner Brust verblieben. Die kamen am 10. Mai 2017 raus. Mensch, was ein feiner Zufall. Da fiel dein Monatstag mit dem Tag der Nachresektion zusammen. Das hatten wir noch gar nicht öffentlich verkündet, Knötchen. Holen wir jetzt hiermit nach. Aber gedacht hatten wir schon daran, stimmt’s? Denn es vergeht kein Tag mehr, an dem ich nicht an dich denke.
Ehrlich gesagt habe ich zu niemandem solche eine enge Beziehung wie zu dir, liebes Knötchen. Du bist immer in meinem Herzen. Und der Tumor lag auch ganz nah dran. Aber das bist ja nicht du, das habe ich vor zwei Monaten verstanden. Der Tumor war der physische Teil von dir. Das was ich tasten und fühlen konnte. Du bist jedoch so viel mehr als das. Du bist ein Warnschuss, ein vehementes Aufrütteln, ein Wachmacher. Du zeigst mir die Richtung, wo mein zukünftiger Weg mich hinführen wird. Du willst mir nichts Böses. Denn es gibt keinen Grund, weshalb mein Körper sich selbst innerlich zerstören sollte. Im Gegenteil, du achtest auf mich. Lehrst mich, besser mit mir selbst umzugehen. Mich selbst noch stärker in den Mittelpunkt meines Lebens zu stellen.
Seitdem ich das erkannt habe, komme ich die meiste Zeit ganz gut mit dir aus. Ich versuche das zu tun, was du mir mit deinem Erscheinen mitteilen wolltest. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe. Auch das ist wie mit Säuglingen. Die reden auch in einer komischen Sprache und als Elternteil hofft man, dass man mit seinen Taten und Worten meistens das Wohl des Kindes trifft. So ist es auch mit dir, Knötchen. Ich frage dich ganz häufig, was dir jetzt gut tun würde. Das spürst du doch, oder? Spüren ist sowieso eine gute Überleitung. Wir beide spüren mittlerweile so viel mehr, nicht wahr? Es ist fast unglaublich, was sich innerlich bei mir in den zwei Monaten getan hat. Das mag jetzt keinem so auffallen. Aber ich merke eine große Klarheit in mir. Und mein Vertrauen in mich und das Leben wächst Tag für Tag.
Denn ein bisschen hattest du es kaputt gemacht. Ja, genau du bist gemeint, Knötchen. Als man mir vor zwei Monaten sagte, dass du es böse mit mir meinst, war ich echt ziemlich sauer auf dich. Immerhin habe ich den Bereich, in dem du dich niedergelassen hattest – meinen Körper – schon seit einiger Zeit gehegt und gepflegt. Gesunde Ernährung stand ganz oben auf der Liste. Und natürlich habe ich auch darauf geachtet, nicht zu viel Stress zu haben. (Hat wohl nicht so gut geklappt.) Hatte meine Hautpflege und Kosmetik auf Naturbasis umgestellt. Auf genügend Schlaf geachtet. Und so weiter. Das fand ich ganz schön ungerecht, dass du ausgerechnet bei mir vorbeischauen und dich niederlassen wolltest, Knötchen. Habe mich lange mit der Frage beschäftigt, warum es ausgerechnet mich getroffen hat.
Bis ich eines verstanden habe: Ich mag eine von x Frauen sein, die jedes Jahr an Brustkrebs erkranken. Ich bin ein Teil der Krebs-Statistik. Aber dennoch ist mein Krebs so individuell wie jeder andere. Es gibt nicht DEN Krebs, auch nicht DEN Brustkrebs. Jeder Krebs ist anders. Und MEIN Krebs bist halt du, Knötchen. Du bist ein Teil meines Systems. Physisch warst du ein Teil meines Körpers. (Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich dich nicht behalten konnte. Du hast am Ende ziemlich gedrückt, ich hatte etwas Schmerzen. Und da ich dir versprochen hatte, dass ich die Message verstehe, habe ich dich physisch gehen lassen. Und du siehst ja an diesem Brief, dass ich dich nicht vergesse und du in Gedanken immer bei mir bist.)
Knötchen, bei deiner Geburt vor zwei Monaten habe ich echt nicht verstanden, wieso du ausgerechnet jetzt schlüpfen wolltest. Du warst quasi überfällig. Und zwar nicht nur Wochen oder Monate, sondern eher Jahre. Kann es sein, dass du wirklich schon jahrelang in mir gewachsen bist? Und du einfach nur etwas gebraucht hast, bis du dich zeigen konntest? Hast du noch gewartet gehabt, ob ich es von alleine verstehe? Wärst du dann wieder weggegangen, ohne tastbar zu werden? Ich werde es nie sicher wissen. Aber irgendwie wäre es auch schade drum, wenn wir uns nie kennengelernt hätten, oder? Denn Knötchen – so doof wie ich dich zwischendurch immer mal finde – oft hast du mir in den letzten Wochen schon genau den richtigen Weg gewiesen. Erinnerst du dich? Und dafür möchte ich dir danken. Wahrscheinlich hätte ich es ohne dich nicht verstanden. Aber jetzt tue ich es. Du hast so viel Neues in mein Leben gebracht. Und das wird so weitergehen, das spüre ich ganz fest.
Ab und an übermannen mich noch die alten Gefühle. Angst, Hilflosigkeit und Furcht. Aber es wird seltener. Wobei ich nicht ausschließen möchte, dass sie wiederkommen. Sie kommen immer an Tagen, an denen das Vertrauen weg ist. An denen ich zu viel Kontakt mit der Außenwelt habe. Die Außenwelt, die mir einreden will, wie schwer krank ich bin. Die Welt, in der es wimmelt vor Rezidiven und Metastasen. Die Welt, in der EIN Krebs, der NICHT MEINER ist, dafür gesorgt hat, dass jemand anderes eingeschlafen ist. In solchen Momenten reißt manchmal meine Verbindung zu dir ab, Knötchen. Dann spüre ich nicht mehr, dass du es im Grunde gut mit mir meinst. Dann werde ich überrollt von der Mainstream-Denke, dass Krebs böse ist und bekämpft werden muss. Fuck Cancer – heißt es dann. Nur damit kann man den Krebs bezwingen und besiegen. Aber das ist immer nur kurz, Knötchen, und ich hoffe, du verstehst das. Ich habe schon viel über dich gelernt in den letzten zwei Monaten, aber ich bleibe weiterhin eine Übende.
Wir beide, du und ich wissen, dass du einen solchen Umgang nicht möchtest. Du möchtest nicht bekämpft werden. Hier geht es nicht um einen Kampf zwischen dir und mir. Wenn wir kämpfen, wird es keinen Sieger geben. Du würdest dich ausbreiten, weil du genervt von mir bist, dass ich kein Verständnis für dich habe. Schärfere Geschütze rausholen. Würdest dir denken, dass ich schon irgendwann auf dich hören werde. Denn wer nicht hören will, muss fühlen. Und ich würde meine Energie darauf verschwenden, dich besiegen zu wollen. Das bringt uns beiden nichts. Stattdessen haben wir eine besondere Verbindung miteinander geschlossen. Du bist ein Teil von mir. Und ich bin ein Teil von dir. Wir gehören zusammen. Ja, ich hätte dich nicht eingeladen. Dafür war ich vor deiner Geburt zu sehr in der „alten Welt“ verhaftet. Aber nun, wo du da bist, arrangiere ich mich ganz gut mit dir. Und höre dir sehr genau zu.
So, Knötchen, heute ist dein Monatstag, und dieser Tag wird dir zu Ehren gefeiert. Und damit es etwas ordentlich ist, räume ich jetzt die Wohnung auf. In meinem eigenen Tempo und nicht zu blitzeblank. Kein Perfektionismus. Dafür ganz viel Genuss und Freude. Genauso, wie du dich wohl fühlst.
Ich sage dir Bescheid, wenn ich fertig bin – dann feiern wir zusammen ne Runde.
Alles Liebe,
Sandra
8 Kommentare