Als ich vor knapp 10 Monaten an einem wunderschönen April-Montag das Klinik-Gelände meiner Heimatstadt verließ, war ich einer Art partiellem Gedächtnisverlust nahe. Ich wusste in diesem Moment nicht, wie spät es ist. Ich wusste nicht, wie ich nach Hause komme. Aber das Schlimmste war: Ich wusste nicht, ob ich leben oder sterben würde.
Wenige Minuten zuvor hatte man mir mitgeteilt, dass ich an Brustkrebs erkrankt sei.
Ich!
Mit nur 36 Jahren, schlank, topfit, seit vielen Jahren sportlich und gesund unterwegs. Es musste sich um einen Irrtum handeln. Gefühlt habe ich mich … gesund. Aber die Ergebnisse der Gewebeuntersuchung wollten mir etwas anderes einreden.
Als ich wenig später zu Hause angekommen war, machte ich mir erstmal eine Flasche Sekt auf. Vielleicht eine skurrile Idee. Wie ich heute weiß, sollte sich diese Art zu leben und Entscheidungen zu treffen von nun an fortsetzen. Spontan. Aus dem Bauch heraus. Impulsiv. Echt. Und lebendig. Nicht mehr so verkopft und angepasst wie davor.
Ich informierte die wichtigsten Menschen in meinem Leben über diesen Albtraum. Und mit jedem Telefonat nahm mich die Unfassbarkeit der Diagnose mehr und mehr in ihren Bann. Niemals davor oder danach ging es mir so schlimm wie in diesen Stunden. Aber auch niemals davor oder danach spürte ich diese Kraft so intensiv:
Die Kraft des puren Lebens.
Der Lebenskampf
Letztens diskutierte ich zum Thema „Kämpfen“ mit einem guten Bekannten. Er sagte mir: Kämpfen ist bei mir nicht negativ belastet. Manchmal muss man auch kämpfen, um was zu erreichen, und gibt dadurch nicht auf. Und manchmal kämpft man ja auch mit sich selbst, dass man nicht aufgibt, und gibt nicht auf, wo andere schon aufgegeben hätten.
Viele Menschen, die ich kenne, leben aber grundsätzlich ein Leben, was sie als oft anstrengend empfinden. Job, Karriere, Überstunden, Pendeln, Kinder oder keine Kinder, Hausbau, Streit mit dem Partner oder die Suche nach dem richtigen Partner – es gibt viele Dinge, die getan werden wollen. Speziell zwischen 30 und 40 ballen sich diese Themen. Und das kann auch als ein Kampf interpretiert werden.
So ging es mir vor der Diagnose.
Versteh mich nicht falsch – ich hatte ein schönes Leben. Aber ich habe es manchmal schwerer genommen, als es hätte sein müssen.
Aus dem eigentlich schönen Leben kann nämlich – wenn man nicht aufpasst – schnell ein kleiner Kampf werden. Ein Kampf, der jedem gerecht wird. Jedem Anspruch. Jedem Mitmenschen. Jedem Chef. Nur einem selbst nicht. Es ist ein Kampf, den man gegen sich selbst führt. Gegen die eigenen Bedürfnisse. Gegen die eigene Identität. Gegen die eigene Persönlichkeit.
Der Krebskampf
Wenn einen das Schicksal kalt erwischt, liegt es so nahe, im gewohnten Takt weiterzumachen oder eher noch einen draufzulegen. Seine Krankheit genauso zu leben, wie man sein Leben vorher gelebt hat. Als Kampf um die eigene Gesundheit. Als Kampf gegen den Krebs. Was es aber auch bedeutet: Als einen unbewussten Kampf gegen sich selbst.
Wie oft lese ich solche oder ähnliche Worte: Nach langer Krankheit hat sie nun den Kampf gegen den Krebs verloren. Oder es fragen mich Menschen: Hast du den Krebs jetzt besiegt? All diese Formulierungen haben ihren Ursprung im Krieg. Gewinnen oder verlieren. Kämpfen oder niedergerungen werden. Indem wir Worte des Krieges in unsere Alltagssprache lassen, militarisieren wir unseren Alltag und unser Leben. Krieg hat nichts mit Liebe, dafür aber ganz viel mit Angst zu tun. Dabei ist der Krebs genauso wenig schwarz oder weiß, wie das Leben selbst (oder wie das Blumenbild über diesem Artikel). Und wir Menschen unterschätzen, welche Kraft unsere Worte und unsere Gedanken entfalten können.
Das Kampf-Potenzial
Ja, es gibt in Zeiten von schwerer Krankheit sehr viele Belastungen, denen man ausgesetzt ist.
- Viele Ärzte
- Viele Untersuchungen und Behandlungen
- Viele Meinungen
- Viele Möglichkeiten
- Die pure Fremdbestimmung
- Sorgen und Ängste
Schwere Krankheit hat also das Potenzial, dass die eigenen Charakterzüge und die Persönlichkeit übertrieben werden. Im Guten wie im weniger Guten. Weil man mit so viel Neuem belastet ist, was Angst macht und zu Anspannung führt. Das verstehe ich sehr gut. Nur: Aus der Angst heraus agieren wir nicht mehr selbstbestimmt. Wir lassen uns von der Angst gefangen nehmen. Die Angst spannt uns vor ihren Karren und wir tun oder sagen Dinge, die nicht aus unserem Herzen kommen.
Wer mir das nicht glaubt, der gehe mal in eine Facebook-Gruppe zum Thema „Brustkrebs“. Noch nie habe ich an einem virtuellen Ort so viel Fürsorge für andere genauso wie pure Destruktivität erlebt. „Also meine Bekannte hat auch die Chemo ausgeschlagen, aber das kann sie dir jetzt nicht mehr erzählen, denn sie ist tot.“ ist fast eine der normalen Formulierungen.
Es sollte bei mir anders sein
Aus einem Grund, der in den Tiefen meiner Seele verborgen liegt, habe ich selbst den Kampf nicht aufgenommen. Von Anfang an habe ich gespürt, dass es „anders“ laufen sollte. Weniger dagegen sein, Kraft aufbringen und Kontrolle bewahren. Mehr annehmen, loslassen und Respekt vor meinem Schicksal entwickeln. Ich habe meine Erkrankung gehasst und geliebt. Ich habe geschwankt und war mir total klar. Ich hatte und habe richtig gute wie richtig miese Phasen. Ja, das Jahr 2017 hat mich intensiv gefordert. Aber nein, als ein Kämpfen empfinde ich es nicht mehr. Immer weniger.
Meine größte Angst ist, dass mir meine Erkrankung nicht mehr genügend Zeit gibt, um das zu leben, was mir im Herzen wichtig ist.
Mein Fokus ist also: Leben. Leben. Leben.
Wenn ich in einen Kampf-Modus verfalle, dann fühlt sich das für mich falsch an. Nach schwierigem Durchhalten, einer „du musst aber“-Haltung und Anstrengung. Das will ich nicht. Viel lieber will ich Leichtigkeit, Genuss und Lebensfreude. Auch mit Krebs.
Was heißt Leben?
Leben bedeutet für mich Bewusstsein und Klarheit: Womit verbringe ich meine Zeit? Was tut mir gut? Was möchte ich noch erleben? Wann fühle ich mich lebendig?
Daraus leite ich ab:
- Jeden Tag etwas Schönes machen.
- Gut für sich sorgen.
- Auf die eigenen Bedürfnisse hören.
- Lernen, die Sprache der eigenen Intuition zu verstehen.
- Sich speziell an Arztbesuch-Tagen etwas gönnen.
- Regelmäßig in den Rückzug gehen.
- Sich Lebensträume verwirklichen (und dafür muss man sie erstmal erkennen!)
- Öfter mal die Sau rauslassen.
Leben heißt also vor allem lebendig zu sein, sich zu spüren und bewusst mit der eigenen Lebenszeit umzugehen.
Wenn du wieder mehr Leben in dein Leben holen möchtest
Dann frage dich diese Fragen und lasse zu, dass die Antworten direkt aus deinem Herzen kommen:
- Wann habe ich mich das letzte Mal gespürt?
- Wann habe ich wirklich tiefe Emotionen gezeigt?
- Wann habe ich etwas Besonderes gemacht?
Meine Antworten
Nach der Erkrankung habe ich mir selbst mehrere Lebensträume erfüllt: Ich habe in meinem Blues-Monat November Deutschland verlassen und war im sonnigen Thailand. Ich habe mit einer wunderschönen Elefantendame geplantscht. Ich habe meine Geschichte als Co-Autorin in einem Buch erzählt. Ich wurde von einer Zeitung interviewt. Ich habe endlich mein erstes Tattoo.
In diesen Momenten fühle ich mich wirklich lebendig. Ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass ich lebe. Wenn ich mich allerdings im Alltag aufreibe, dann ist das eher anstrengend. Immer dann, wenn es schwierig im Leben wird, wenn ich mich unter Druck fühle und es alles zu viel wird, dann darf ich in mich hineinhorchen. Und erkenne meist, dass ich gerade kämpfe.
Was mir dann hilft? Eine Runde Leben. Irgendwas Ausgelassenes, Unerwartetes und Freudiges. Oder auch Ruhiges, Besinnliches und Erdendes. Egal was. Hauptsache fühlen, freuen und … leben.
Leben statt Kämpfen bringt mehr Leichtigkeit
Und aus dem Wunsch nach Leben entwickelt sich übrigens automatisch das, was wir mit dem Kämpfen erreichen wollen: Durchhalten, nicht Aufgeben, Dranbleiben, die eigene Stärke zeigen und sich nicht unterkriegen lassen. Genau die positive Haltung, die auch mein Bekannter mit dem Kämpfen verbindet.
Aber es bekommt ein anderes Vorzeichen. Wir bedienen uns nicht Kriegsbegriffen, sondern fokussieren uns auf das, was in uns allen ist: Die Liebe zum Leben. Und das bringt mehr Leichtigkeit, Lebensfreude und Genuss ins Leben. Mehr Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung. Und das fühlt sich für mich richtig und lebenswert an.